Friesen-Gewinne

Vor Weihnachten versammeln sich stolze Männer in dieser Stube in Ostfriesland. Sie gehören zur ältesten Genossenschaft der Welt. Von Peter Ringel

Wer weiß schon, was sein Vorfahr im Jahr 884 getrieben hat? Schmeckte er als Leibeigener die Knute, oder schwang er als Adliger selbst den Stock? Kaum ein Familienforscher dringt bis ins erste Jahrtausend unserer Zeitrechnung vor. Gerhard Seeba aber glaubt zu wissen, was sein Urahn im tiefen Mittelalter tat: Der friesische Bauer haute den Normannen auf den Kopf. Irgendwo bei Nordidi, der Hauptstadt des Gaus Nordendi. Wegen der Heldentat von einst putzt sich der alte Mann heute fein heraus. Im festlichen Anzug und Schlips geht es los, den Stock setzt Seeba spielerisch aufs Pflaster. Sein Ziel ist eine Kammer hinter mächtigen Backsteinmauern. „Kein Zutritt für Unberechtigte“, warnt das handgemalte Schild an der Holztür. Dahinter lärmen Stimmen. Am Eingang rückt der 88-Jährige noch einmal die randlose Brille zurecht. Dann taucht er aus der feuchten Kälte in den Dunst aus Pfeifenqualm, Starkbier und Petroleumfunzeln. Knapp 50 ältere Männer drängen sich an zwei langen Tischreihen. Am Kopfende setzt sich Seeba zu drei Weißhaarigen auf einen besonders hohen Stuhl. Die vier alten Herren sind Theelachter, die Chefs einer exklusiven Männerrunde. Die Theelacht, niederdeutsch für „Anteilsaufsicht“, gilt als älteste Genossenschaft Europas, wahrscheinlich der Welt. Der Beitritt ist streng reglementiert. Die Gemeinschaft gründete sich vor mehr als 1000 Jahren. Wikinger, die am Niederrhein bei Duisburg überwintert hatten, ruderten auf ihren Schiffen gen Norden. Wie häufig zuvor landeten sie zum Plündern und Brandschatzen an der Küste, erzählt Seeba mit blitzenden Augen. Seine Hand schlängelt sich entlang der imaginären Route, auf der die Drachenboote über die gewundenen Priele schlichen. Deiche gab es damals nicht, die Höfe lagen auf Erdhügeln. Die Nordmänner stießen auf schlecht bewaffnete Bauern, denen das Geleit des Erzbischofs Rembertus zu Hilfe kam. Bei der Schlacht flehte der Gottesmann auf Knien um himmlischen Beistand. Das Ergebnis, laut den Bremer Kirchenbüchern: Die Normannen wurden so vernichtend geschlagen, dass „sie nicht wieder zu ihrer vorigen Macht gekommen seien“. Nicht weniger als 10 377 Wikinger wurden „nieder geleget und erschlaget“. „Die Zahl ist wohl eher symbolisch gemeint“, räumt Heiko Campen ein. Was der Syndikus der Theelacht jedoch für erwiesen hält: Nach der Schlacht kamen weite Ländereien an der Hilgenrieder Bucht in den Besitz der Genossenschaft. Zunächst bewirtschafteten die Bauern den fetten Kleiboden selbst, später wurde er verpachtet. Bis heute sind rund 200 Hektar Wiesen und Äcker abgabepflichtig. Zweimal im Jahr werden die Anteilseigner ausgezahlt, vor Ostern und vor Weihnachten. Das einstige Nordidi hat sich in die ostfriesische Stadt Norden verwandelt. Und der Stein, auf dem der Erzbischöf kniete, ist eine Touristenattraktion: Das Wasser in den zwei Mulden soll Wunder gegen Warzen wirken. Drachenboote aus Skandinavien wurden seit Langem nicht gesichtet. Die Touristen, die in den Souvenirläden nach Plüschrobben oder Buddelschiffen kramen, sind meist friedlich. Die Auszahlung in der Theelkammer im alten Norder Rathaus ist das wichtigste Ritual der ehrwürdigen Gemeinschaft. Beim Ruf „Up Theelachts Wohlfahrt“ gehen die Becher hoch. Verkündet der Syndikus, wie großartig er das Zusammenhalten der alten Rabauken findet, kommt ein „Joh, so is dat“ von den Tischen — eine Gospelpredigt auf Platt. Zwischen den Ansagen krakeelen und schnacken die Ostfriesen ohne Pause. Dann peitscht ein Knall durch den hohen Raum. Dreimal schlägt Theelbote Bojen, er macht den Job seit fast 50 Jahren, einen „Klopper“ aus Holzleisten auf den Tisch. Nur in einer Ecke wird noch getuschelt — bis der 73-jährige Campen ein energisches „Düwel ook“ hinüberschickt.
Endlich fordert der Theelbote die „Arvburen, Pelzburen und Koopburen“ im immergleichen Singsang auf, sich ihren Anteil zu holen. Früher war die Theelacht wohlhabend. Doch Rechtsänderungen schmälerten den Landbesitz, zwei Währungsreformen ließen das Vermögen schmelzen. Vor 100 Jahren wurde noch ein Stück Gold ausgezahlt, heute gibt es nur 1€ pro Anteil. Davon hat kein Mitglied mehr als acht, reich wird bei der Theelacht also niemand. Immerhin ist das Bier umsonst. Dass die Arvburen, die Erbbauern, ihre Herkunft bis zur legendären Normannen-schlacht zurückführen können, verdanken sie einer strikten Erbfolge. Im 1585 aufgezeichneten Theelrecht ist sie genau justiert. Der in Leder gebundene Erstdruck von 1759 steht in Seebas Bücherregal. Der Kodex legt auf Hunderten von Seiten fest, dass nur eheliche Kinder von Erbbauern einen Erbanteil erhalten. Söhne haben den Vorzug vor Töchtern, die Jüngeren vor den Älteren. Aus diesem Relikt des mittel-alterlichen Erbrechts soll die vinkulierte Namensaktie des heutigen Aktienrechts abgeleitet sein. Die Theelacht ist eine Zweiklassen-gesellschaft. Wer als einer der mehr als 300 Erbbauern von den Gründern abstammt, sitzt an dickeren Tischen, auf höheren Stühlen und unter schöneren Petroleumlampen. Die Kaufbauern, die Köopburen, hocken am Katzentisch. Deren Kaste entstand, als vor allem im Dreißigjährigen Krieg manch Erbanteil als Pfand eingesetzt wurde. 502 Kaufanteile gibt es heute. „Die Koopburen machen viel Krach, haben aber nichts zu sagen“, erklärt Campen die Hackordnung. In der Mitte der Hierarchie stehen die „Pelzburen“, die Ehemänner der erbberech-tigten Frauen. Diese hatten wie Nichtmitglieder bis vor einigen Jahren keinen Zutritt zur Theelkammer. Bei der Versammlung dürfen Frauen bis heute nicht dabei sein. Joh, so is dat. Die Theelacht ist gelebte Tradition. In der rußigen Kammer hängen weit verästelte Stammbäume. Man schmaucht, in die langstieligen Tonpfeifen ist der Name des Besitzers geprägt. Das Bockbier wird in Zinnkrügen gewärmt und in Holzbecher mit Kupferumreifung geschenkt. Früher wurde es eigens gebraut, inzwischen schwappt eine handelsübliche Marke im Fass. „Schmeckt aber fast genauso wie früher“, versichert Campen. Seeba ist es gleich, er mag den dunklen Trank ohnehin nicht. Wer seinen Erbteil antritt, muss so viele Becher Bier trinken, wie die Summe bei dreimal Würfeln beträgt. Allerdings haben die Würfel auf jeder Seite sechs Augen. Andere Traditionen sind weniger leicht zu wahren: „Wo kriegen wir Torf her?“, fragt Campen in die Runde um das Holzfeuer. Eigentlich müsste Torf statt der Scheite im hohen Kamin brennen. Und ein Polizist sollte in der Stube hocken, um die Auszahlung zu überwachen. Im Vorjahr saß noch einer am Kamin. Warum der Stuhl nun verwaist ist, weiß keiner so genau. Der Genossenschaftsforscher Peter Gleber erklärt, warum die Theelacht über 1100 Jahre überdauert hat: „Sie hat eine Nische in einem wenig fortschrittlichen Raum gefunden.“ Während die Zünfte mit der Industrialisierung zusammenbrachen, musste sich eine Gemeinschaft, die nur Ländereien verwaltet, kaum verändern. Zudem seien die Familienbande ein guter Kitt gewesen: „Das gibt mehr Zusammenhalt als eine reine Zweckgemeinschaft.“ Bei der Saga um die Theelacht ist für den Mittelalterhistoriker Hajo van Lengen auch viel Verklärung im Spiel. Zwar sei die Schlacht gegen die Normannen verbürgt. Und für den beginnenden Deichbau dürfte es genossenschaftsähnliche Organisationen gegeben haben. Die Gründung der Theelacht mit dem Waffengang gegen die Wikinger zu erklären sei pure Spekulation, wenn auch verständlich: „Wer stammt nicht gern von einem Freiheitskämpfer ab?“ Seeba jedenfalls erklärt eifrig das Wappen der Theelacht an seiner Haustür: Ein Mann mit langem Säbel steht triumphierend auf einem Lindwurm. Warum der mehr einem Krokodil als einem nordischen Drachenboot ähnelt? Da muss er passen. Zur Theelacht kam Seeba erst spät. Seinen Anteil erbte er als 18-Jähriger. Den Vater begleitete er nur ein einziges Mal zu einer Versamm-lung. Über acht Kilometer ging es durch Moor und Klei. Da lauf ich nicht wieder hin, schwor er sich damals. Erst in den 50er-Jahren kehrte Seeba zurück: „Die alten Bauern haben mich da hingeschleift.“ 1956 wurde der Kaufmann zum Theelachter gewählt. Weil er sein Amt seit 50 Jahren innehat, prangt sein Name bei dieser Versammlung erstmals in goldener Schrift auf der Tafel, auf der seit 1600 alle Theelachter verzeichnet sind. Bislang waren nur zwei Namen vergoldet. Jetzt leuchtet auch der Schriftzug „1956 Gerhard Ew. Seeba“ im Schein des Kamins. Um die Zukunft der Theelacht ist den Männern nicht banne. Als Ausgleich für verlorenes Land kauft der Syndikus Acker und Weiden. Und bei jeder Auszahlung ist die Theelkammer voll. Viele Jüngere betteln um Aufnahme in den illustren Klub, fast immer vergebens. Denn ein Anteil wird äußerst selten verkauft. Und die Theelachter müssen mit dem neuen Kaufbauern einverstanden sein. Der Erbbauer Seeba findet es erstaunlich, dass eine Mitgliedschaft zweiter Klasse so begehrt ist. „Als Kaufbauer, das ist schon erniedrigend“, sagt er, „aber wir ändern nichts, sonst ist die Theelacht nicht mehr echt.“ Immerhin werden schlechte Plätze und fehlende Stimmrechte mit menschlicher Wärme ausgeglichen. Als Seeba seinen Chefsessel verlässt, legt er den Arm väterlich um die Schultern eines Kaufbauern. Dann tritt er hinaus in den kalten Wind, der vom nahen Deich her weht. Kein Normanne in Sicht.

Foto: Gerhard Seeba (88) im Saal der Theelachtskammer, © Dirk Eisermann 2006
Foto: Gerhard Seeba (88) im Saal der Theelachtskammer, © Dirk Eisermann 2006