Von der "Urhorde" zur eG
Auf der Suche nach der ältesten Genossenschaft in Deutschland
von Peter Gleber
Wie heißt die älteste Genossenschaft Deutschlands? Historiker sollten diese Frage leicht beantworten können, möchte man meinen. Alter gilt – zumindest bei Institutionen – als Ausweis der Ehrwürdigkeit. Entsprechend begehrt ist natürlich das Prädikat „älteste Genossenschaft“. Die Frage, wem es gebührt, ist jedoch nur scheinbar eindeutig. Hier entscheiden nicht nur Jahreszahlen, sondern auch das Verständnis von dem, was diese Form der Selbsthilfeorganisation ausmacht, sowie die jeweilige Branche. Wichtig ist außerdem der geographische Bezug. Definiert man Genossenschaft juristisch, so beginnt die Geschichte dieser Organisationsform erst 1867 mit dem Preußischen Genossenschaftsgesetz, das zwischen 1871 und 1873 in allen Ländern des gerade gegründeten Deutschen Reiches Gültigkeit erlangte. Die Idee, die dem Genossenschaftswesen zugrunde liegt, ist jedoch viel älter- „Die älteste Genossenschaft (…) umfasste das ganze Volk“, stellte etwa Friedrich Engels im letzten Jahrhundert (1881/82) fest „Ihm gehörte ursprünglich alles in Besitz genommene Land“.
Georg Draheim (1903-1972) Genossenschaftsdefinition reicht ebenfalls sehr weit in die Menschheitsgeschichte zurück. Der langjährige Präsident der Frankfurter Genossenschaftszentralkasse sieht in den so genannten „Urhorden“ erste genossenschaftsartige Gebilde und Gefüge. Das „Gefühl der Bedrohung und Bedrückung durch fremde Kräfte, denen der Einzelne machtlos gegenüberstand,“ ist nach Draheim „die Hauptwurzel der Genossenschaftsbildung“.
Auch wenn man den Genossenschaftsbegriff weniger weitschweifig betrachtet, ist es sinnvoll, die Genossenschaften nach ihrem Entstehungszeitraum in drei Gruppen einzuteilen!
1. Vormoderne Selbsthilfeorganisationen bis zum 18. Jahrhundert.
2. Moderne Genossenschaften seit dem Anfangen der Industrialisierung.
3. Selbsthilfeorganisationen infolge des Genossenschaftsgesetzes von 1867.
Die Gründung vormoderner Selbsthilfeorganisationen reicht zurück bis in die Antike. Bereits im Altertum haben politisch verfasste Gemeinden (Poleis), Religionsgemeinschaften oder Stämme genossenschaftliche Züge und sie entstehen als Bündnisse der Not immer wieder neu. In Deutschland organisieren sich Menschen erstmals im Mittelalter in Zweckgemeinschaften zur gemeinsamen Wahrnehmung religiöser, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Aufgaben. Vormoderne Formen wie die Sippen, die Hausgenossenschaften und die Familien organisieren das gesamte Leben und beschränken sich nicht auf wirtschaftliche Zwecke. Vorwiegend wirtschaftliche Aufgaben haben die Mark-, Weide und Waldgenossenschaften, deren Mitglieder gemeinschaftlich Land und Waldgebiete nutzen. Wassergenossenschaften sichern den Mitgliedern die Wasserrechte. Auch die Erhaltung, der Bau und die Nutzung von Deichen ist genossenschaftlich organisiert, weil die Aufgabe die Kräfte des Einzelnen übersteigen. Beerdigungsgenossenschaften, so genannte Einungen ermöglichen den Anteilseignern ein angemessenes Begräbnis. Auch geistliche Ordensgemeinschaften sowie die Lehrenden und Lernenden an Universitäten sind genossenschaftlich organisiert. Auch die Verfassung mittelalterlicher Städte ist eine genossenschaftliche, wobei sich bei den Kämpfen um die Bürgerrechte die aus den Geschlechtsgenossenschaften hervorgegangenen Gilden und die Zünfte der Handwerker gegenüberstanden.
Ostfriesen als Vorreiter
Die älteste heute noch bestehende Genossenschaft in Deutschland gründen die Bewohner der ostfriesischen Stadt Norden im Jahr 884. Die Theelacht – der niederdeutsche Begriff bedeutet Anteilsaufsicht – verwaltet Land, das die Friesen den Normannen abgetrotzt haben. Ihren zentralen Verwaltungssitz hat die Theelacht in der Theelkammer des alten Rathauses am Norder Marktplatz, der auch für Touristen zuganglich ist. Dort versammeln sich die Mitglieder, um erwirtschaftete Gewinne zu verteilen. Das ursprünglich von den Genossenschaftern selbst genutzte Land wird mittlerweile verpachtet.
Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten die Theelachter eine eigene Rechtsordnung. Entscheidungen werden demokratisch gefällt. Vier Theelachter verwalten die Theel-Lande und sorgen für die zweimal jährlich stattfindende Rechnungslegung. Diese erfolgt nach einem genau festgelegten Zeremoniell, bei dem Tonpfeifen, Tabak und das warme Theelbier den Versammelten gereicht werden. Frauen sind bis heute von dieser Zeremonie ausgeschlossen.
Die Anteile zerfallen in Erb- und Kaufanteile, so genannte „Arv- und Kooptheele“. Nur die Besitzer der Arvtheele, die Arvburen (Erbbauern), besitzen das aktive und passive Wahlrecht. Mitglieder, die sich eingekauft haben, so genannte Koopburen haben zwar einen Sitz in der Theelachtsversammlung, jedoch kein Stimmrecht.
Ein Arvtheel vererbt sich nach altem friesischen Recht auf den jüngsten Sohn. Verheiratete ältere Söhne mit eigenem Hausstand erhalten einen vollen Arvtheel, den sie aber nicht an die nächste Generation vererben können. Hat ein Arvbauer keine Söhne, so erben seine Töchter. Sie werden in der Theelachtsversammlung von ihren Ehemännern, den Pelzburen, vertreten.
Das Theel eines kinderlos verstorbenen Arvburen fällt an die Theelacht zurück. Veräußert ein Arvbuur seinen Anteil, so fallt auch dieses Theel bei seinem Tod an die Theelacht zurück – es sei denn, die Theelacht gibt ihre Zustimmung zur Umwandlung des Arvtheel in ein Kooptheel. Die Ländereien der Theelacht zerfallen in acht Theele. Die Ertrage werden entweder vor Ostern als Vörjahrstheele oder vor Weihnachten als Harfstheele ausgezahlt.
Genossenschaften neuen Typs
Vormoderne Genossenschaften nehmen dem Staat gegenüber oft eigenständige Rechte, Verbandsautonomie und eigene Gerichtsbarkeit in Anspruch. Der Einzelne ist Teil einer Gemeinschaft, die sein Leben umfassend gestaltet. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehen dann aber die Genossenschaften neuen Typs. Wirtschaftlich selbstständige Individuen schließen sich zu Selbsthilfeorganisationen zusammen, die ihren Betrieben das Überleben ermöglichen.
Ursache für den Wandel sind die liberalen Ideen der Französischen Revolution und die wirtschaftlichen Folgen der von Großbritannien ausgehenden Industriellen Revolution. Der rationelle Einsatz von Maschinen verdrängt traditionelle handwerkliche Produktionsmethoden. Großindustrie und Verstädterung wandeln die Lebensbedingungen der Menschen gravierend.
Im Widerstreit zwischen beharrenden Kräften und Reformern haben die deutschen Territorialstaaten bereits zu Beginn des Jahrhunderts die Zünfte aufgelöst, die Gewerbefreiheit und die Bauernbefreiung eingeleitet. Handwerker und Bauern sind den Bedingungen des Wettbewerbs und der modernen Massenproduktion großenteils nicht gewachsen und oft gezwungen, ihre Selbstständigkeit zugunsten einer lohnabhängigen Fabrikarbeit aufzugeben. Ihnen fehlt das Kapital sowie das technische und kaufmännische Know -how, um in einer zunehmend liberalisierten Wirtschaft zu überleben.
Dr. Peter Gleber (R) Genossenschaftsforum